
Die homöopathische Welt glaubt einmal wieder, Anlass zur Freude zu haben. Vor wenigen Tagen traf das Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung, die dort als „Sieg“ gefeiert wird. Und in der Tat, auf eine gewisse Weise ist sie das auch, wenn ich auch glaube, dass die meisten Feiernden den genauen Inhalt des Urteils nicht wirklich realisiert haben. Man könnte nämlich, recht betrachtet, durchaus sagen, dass die Homöopathie allenfalls als „Beiwerk“ Gegenstand des Urteils ist.
Ich bin weit entfernt von Richterbashing, als jemandem, der mal eine Menge über Jura, Gesetzgebung und Rechtsprechung gelernt hat, ist mir das fern. Aber es ist legitim, aufzuzeigen, wo auch Entscheidungen des obersten Gerichts vielleicht einen zu niedrigen Horizont, einen allzu begrenzten Radius einbeziehen und damit verfehlen, ein in der Gesamtschau „richtiges“ Urteil zu erreichen. So bitte ich meine nachfolgenden Ausführungen zu verstehen.
Worum geht es?
Das Tierarzneimittelgesetz 2022
Im Februar 2022 ist das neue Tierarzneimittelgesetz (TAMG) in Kraft getreten. Im Wesentlichen ist es eine Umsetzung von Regelungen der neuen EU-Biorichtlinie und der EU-Tierarzneimittelrichtlinie. Einer der Kernpunkte der EU-Regelungen ist das Gebot, dass Arzneimittel in der Haltung von Tieren, die der Lebensmittelgewinnung dienen, nur noch auf tierärztliche Verordnung hin verabreicht werden dürfen (sog. Tierarztvorbehalt). Da Homöopathika bekanntlich auch Arzneimittel im Sinne des Gesetzes sind, bedeutet das das Aus für das Herumpfuschen von Tierhaltern und Tierheilpraktikern mit Homöopathie im Viehstall. Dass auch Tierärzten hier rechtlich enge Grenzen gesetzt sind, habe ich auf diesem Blog schon näher erklärt.
Der deutsche Gesetzgeber hat den Regelungen der EU-Richtlinien, die es umzusetzen galt, noch ein Detail hinzugefügt: er hat nämlich Haltern und Tierheilpraktikern (also Laien) auch für den Bereich der Nicht-Nutztiere grundsätzlich untersagt, Homöopathika, die nicht explizit als Veterinärarzneimittel ausgewiesen sind (das sind die allermeisten) ohne tierärztliche Verordnung zu verabreichen. Das ist üblich (was schert dabei die Unmöglichkeit, nach homöopathischen Grundsätzen zu therapieren) und nennt sich „Umwidmung“. Es geht also, kurz gesagt, um die Ausdehnung des Tierarztvorbehalts auf Tiere, die keine Nutztiere mit dem Ziel der Lebensmittelgewinnung sind. Hund, Katz, Pferd und Maus also. Und Koikarpfen nicht zu vergessen, ein bekanntes Tätigkeitsfeld für Tierheilpraktiker.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Nun ist Tierhomöopathie ja eh nichts anderes als das Absurde im Absurden. Aber lassen wir diese Kleinigkeit erst einmal beiseite und fragen uns, was das jetzt mit dem Bundesverfassungsgericht zu tun hat.
Nun, es handelt sich um eine Klage von TierheilpraktikerInnen gegen den eben beschriebenen „speziellen“ Teil des TAMG, den Tierarztvorbehalt auch bei Nicht-Nutztieren, der sie in ihrer Berufsausübungsfreiheit einschränke. Die Formulierung war wohl, die Regelung „käme faktisch einem Berufsverbot gleich“.
Nun kann man sehr wohl darüber streiten, ob dies a) nicht durchaus wünschenswert und b) der Tierheilpraktiker überhaupt ein „Beruf“ sei. Leider hat in der Rechtsprechung die frühere Rechtsfigur des Berufs mit Ausbildung, Fachkunde, in der Regel auch dem Nachweis einer Qualifikation unter einem Prüfungsregularium längst einer Sicht Platz gemacht, die mehr oder weniger als „Beruf“ alles anerkennt, was auf dem gleichsinnigen Zusammenschluss einiger Überzeugter beruht und über mehr als ein paar Wochen oder Monate tatsächlich gegen Entgelt ausgeübt wird. Im ersteren Sinne wäre der „Tierheilpraktiker“ also ein Nicht-Beruf, allenfalls eine Tätigkeit. Das Bundesverfassungsgericht sah aber in seinem hier besprochenen Urteil kein Problem darin, Tierheilpraktikern den Schutz der Berufsausübungsfreiheit nach dem Grundgesetz zuzuerkennen und sie damit als „Beruf“ de facto rechtlich anzuerkennen. Was eine sehr unangenehme Sache ist, wie wir noch sehen werden.
Unter dieser offensichtlich nicht weiter hinterfragten Prämisse untersuchte das Gericht, ob das „Homöopathie-Verbot“ des TAMG für Nicht-Tierärzte im Nicht-Nutztierbereich (man muss es so präzise ausdrücken) tatsächlich verfassungswidrig sei. Und bejahte diese Frage. Mit der Folge, dass der angegriffene „Spezialteil“ des TAMG als von Anfang an nichtig gilt und nicht anzuwenden ist.
Das Gericht befand, das uneingeschränkte Verbot der Anwendung von Humanhomöopathika an Nicht-Nutztieren durch Halter und Tierheilpraktiker sei vom Gesetzgeber nicht ausreichend gegenüber dem damit verbundenen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit abgewogen worden. Die Einstufung der Tierheilpraktiker als Beruf nehme ich mal als Fakt hin, so sehr es mir widerstrebt – siehe oben. Aber die Sache mit der Abwägung, da hakt es bei mir gewaltig.
Der Gesetzgeber hat vor dem Hintergrund, dass die Wahrscheinlichkeit einer Beeinträchtigung von Belangen des Tierschutzes und einer Schädigung der Gesundheit von Tier und Mensch als gering einzuschätzen ist und durch die Einführung einer Pflicht zum Nachweis theoretischer Kenntnisse im Bereich der Tierheilkunde weiter gemindert werden kann, keinen verfassungsrechtlich angemessenen Ausgleich vorgenommen.
Pressemitteilung vom 16.11.2022 zum Beschluss vom 29. September 2022
1 BvR 2380/21, 1 BvR 2449/21
Gut, das entspricht dem ehernen Grundsatz, dass Eingriffe in Rechte, zumal Grundrechte (wie hier in die Berufsausübungsfreiheit) notwendig, angemessen und so milde wie möglich sein müssen. Nähere Ausführungen dazu in der Gesetzesbegründung hat das Gericht vermisst. Es ist also erst einmal folgerichtig, wenn es diesen Punkt in den Fokus nimmt.
Ich kenne die großen Linien der Verfassungsgerichtsrechtsprechung einigermaßen gut, zurück bis in die Anfänge. Da hat sich mit der Zeit einiges verändert – oder besser gesagt, neu verortet. Das ist eigentlich eine gute Sache und sollte viel öfter Gegentand der Rechtsprechung sein, die ja in gewissen Grenzen ein Spiegelbild der realen gesellschaftlichen Verhältnisse und keine sture Rechtsanwendung sein soll. So fordert das BVerfG selbst von der gesamten Rechtsprechung. „das geltende Recht an veränderte Verhältnisse anzupassen“ (so in der Entscheidung des Ersten Senats vom 25. Januar 2011 – 1 BvR 918/10 -).
Zu den weniger gutzuheißenden Entwicklungen in der Verfassungsrechtsprechung gehört aber, dass solche konkreten Aussagen zu Prämissen und Kriterien wie im vorliegenden Fall früher so nicht getroffen worden wären. Hier aber sieht man, wie das Gericht praktisch Prämissen „unverrückbar“ festschreibt und sie dem Gesetzgeber als konkrete Abwägungskriterien regelrecht vorgibt. Früher hätte sich das Gericht wohl auf die Feststellung beschränkt, es fehle an einer schlüssigen Darlegung und Abwägung des Pro und Contra eines solchen Grundrechtseingriffs.
Was das BVerfG hier tut und was nicht von mir allein kritisiert wird, das nennt man „Einschränkung der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers“. Damit ist gemeint, dass der Gesetzgeber weitgehend frei darin ist, die Gründe für und gegen eine Gesetzesregelung abzuwägen und dabei auch selbst zu entscheiden, welchen Gründen er dabei den Vorrang einräumt. Verfassungsgerichtlicher Nachprüfung obliegt – das ist doch unter dem Aspekt der Gewaltenteilung eine Selbstverständlichkeit – nur noch, ob eine solche Abwägung überhaupt stattgefunden hat oder ob sie auf gänzlich sachfremden Erwägungen beruht. Die Einschätzungsprärogative ist von der Rechtsprechung so „großzügig“ wie nur immer vertretbar auszulegen. Danach könnte der Urteilsspruch nur lauten, dass das eine (fehlende Abwägung) oder das andere (elementar fehlerhafte Abwägung) vorliegt und nicht, nach welchen konkreten Prämissen der Gesetzgeber hätte verfahren müssen bzw. bei einer Revision des Gesetzes verfahren solle.
Die sachliche Schieflage
Und genau in dieser kritikwürdigen Ausdehnung des Rahmens der Rechtsprechung liegt die Crux und zeigt auf, warum es elementar ist, gegenüber dem Gesetzgeber nicht „zu konkret“ zu werden. Denn:
Nach meiner bescheidenen, aber m.E. wohlbegründeten Ansicht liegt das Gericht daneben, wenn es von einer „geringen Wahrscheinlichkeit einer Beeinträchtigung von Belangen des Tierschutzes und einer Schädigung der Gesundheit von Mensch und Tier“ ausgeht. Das ist der Widerhall jahrzehntelanger Homöopathie-Propaganda von „sanft, natürlich und nebenwirkungsfrei“, die sich ganz offensichtlich sogar in den Köpfen von Richtern als unhinterfragbar einen Platz erobert hat. Nur ist das erstens falsch, zweitens falsch und außerdem – falsch.
Natürlich hat man seinerzeit, beim Arzneimittelgesetz 1978, den Homöopathen und Anthroposophen nach deren Gezeter auch deshalb ihren Willen gelassen, weil man ihre verdünnten Eso-Pillen und -Tinkturen für jedenfalls „harmlos“ hielt. Das war aus der damaligen Sicht irgendwie ja noch nachvollziehbar (Betonung auf „irgendwie“). Aber heute ist das eine absolut unhaltbare Position und ein zentraler Punkt der wissenschaftsbasierten Homöopathiekritik. Das Projekt „Globukalypse“ des Informationsnetzwerks Homöopathie zielt genau darauf ab, vor allem Entscheidungsträgern in Gesundheitswesen und Politik die vielfältigen Schadenspotenziale von Homöopathie zu verdeutlichen.
Es lässt sich eigentlich auf einen sehr kurzen Extrakt verkürzen: Homöopathie ist spezifisch unwirksam, daher kommt eine „Behandlung“ damit einer Nichtbehandlung gleich. Dass eine Nichtbehandlung a priori schadenbehaftet ist, liegt auf der Hand. (Und dass eine Behandlung mit Homöopathie nicht mit dem Placeboeffekt zu rechtfertigen ist – was die Homöopathen auch gar nicht wollen – das wurde schon oft erklärt.) Von einem geringen bis nicht vorhandenen Schadenpotenzial der Homöopathie auch im vorliegenden „Spezialfall“ auszugehen, ist schlicht verfehlt. Das ist auch von der medizinwissenschaftlichen Seite (u.a. dem Weltärztebund) längst als relevant anerkannt.
Daraus folgt dann aber auch, dass die homöopathische „Behandlung“ von Haustieren tierschutzrelevant ist. Immerhin ist der aktive Tierschutz auch ein Verfassungsgebot. Tiere durch faktische Nichtbehandlung leiden lassen, Krankheiten bei der Chronifizierung zuzusehen oder gar die Tiere sterben zu lassen ist tierschutz- und damit gesetzeswidrig.
Das Bundesverfassungsgericht hat aber gerade das glatte Gegenteil dessen als Prämissen angenommen und dies für eine Abwägung dem Gesetzgeber mehr als nahegelegt – das ist der Part, dem hier entschieden widersprochen werden muss. Schlimm genug, dass das Gericht den Tierheilpraktiker als „Beruf“ zementiert und dem Gesetzgeber gar vorschlägt, diesen durch einen Regelungsrahmen auch noch zu legitimieren. Schon das Urteil selbst bedeutet eine Festigung des Tierheilpraktiker-Unwesens, kommt es erst zu einer gesetzlichen Regelung gleich welchen Inhalts, wäre das eine Festlegung für die Ewigkeit. Selbst die Humanheilpraktiker würden davon profitieren, wenn eine ihnen analoge Entität im Tierbereich regelrecht installiert werden würde. Das alles unter die Annahme zu stellen, es gehe hier um eine Marginalie ohne nennenswertes Schadenspotenzial, das ist schlicht – verfehlt.
Und den Tierheilpraktikern eine „Pflicht zum Nachweis theoretischer Kenntnisse im Bereich der Tierheilkunde“ aufzuerlegen, hat mit der Realität auch wenig bis nichts zu tun. Erstens, weil man sich die Diagnostik und Therapie beim Tier eher noch komplexer vorstellen muss als in der Humanmedizin, was jeder Absolvent einer tierärztlichen Hochschule bestätigen wird. Und zweitens, weil eine solche Anforderung nicht einmal an die Zulassung als Humanheilpraktiker gestellt wird. Dort geht es lediglich darum, ob der Kandidat einigermaßen seine Grenzen kennt – die berühmte Prüfung „zur Abwehr von Gefahr für die Volksgesundheit“. Die Formulierung des Gerichts für Tierheilpraktiker geht absurderweise klar darüber hinaus. Das würde dann wieder dazu führen, dass die Tierheilpraktiker sich in ihrer Berufsausübungsfreiheit gegenüber den Humanheilpraktikern … und der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung … äh … lassen wir das mal beiseite, denn das könnte man noch viel weiter ausführen.
Fazit: Keine Lösungen, nur zusätzliche Probleme
An der Legitimation der Homöopathie als Arzneimittel, dem Grundproblem, ändert sich ersichtlich – nichts. Das Urteil unterstreicht im Gegenteil sozusagen noch einmal die Rolle der Homöopathie als Arzneimittel im Sinne des Gesetzes. Und zeigt damit – wie schon erwähnt – die enorme Wirkkraft der jahrzehntelang verbreiteten Homöopathie-Propaganda, die der Methode den Ruf einer realen Therapieoption in den Augen der Allgemeinheit verschafft hat.
Das zu ändern, ist das Anliegen der „Globukalypse“.
Kleiner FunFact zum Schluss: Nach der Veröffentlichung des Urteils und diversen Presseartikeln dazu fanden sich in den Sozialen Medien die „Betroffenen“ zusammen – und waren zu großen Teilen baß erstaunt, dass es die Regelung, die das Gericht nun gekippt hat, überhaupt gegeben hat. Was ein bezeichnendes Licht auf die „Professionalität“ der „Ausübenden der Tierheilkunde ohne Approbation“ wirft. Jahrelange Vorlaufzeiten und Diskussionen über die EU-Regelungen und ihrer Umsetzung in nationales Recht ist offenbar an diesen Profis ebenso vorbeigegangen wie eine Petition der eigenen Verbandschaft und die durchaus in der Presse berichtete Klageeinreichung. Wollte ich nur kurz angemerkt haben.
Meine Empfehlung zum Thema Tierheilpraktiker:
Colin Goldner: Tierheilpraktische Quacksalberei (beim Humanistischen Pressedienst)